Hierzulande gehen die meisten Leute in ein Restaurant, wenn sie einmal der Küche entkommen wollen. In den USA hat sich der Trend gewendet: Die Gäste der vornehmsten und teuersten Gourmet-Tempel reservieren Wochen und Monate im voraus, um den begehrtesten Tisch des Lokals zu ergattern – den in der Küche. Seit letztem Jahr bieten vier Restaurants in Chicago einen "Kitchen Table" an – die Riesennachfrage kann damit aber längst noch nicht gestillt werden.
Im "Charlie Trotters", einem der Top-Lokale Chicagos, muss ein Samstagabend-Küchentisch beispielsweise ein Jahr im voraus bestellt werden! Dass die Idee, die Gäste während des Essens am Treiben in der Küche teilnehmen zu lassen, so einschlagen würde, hätten die Chefs dieser Restaurants nie zu träumen gewagt. "Ich habe mich anfangs gefragt, wer zum Teufel bei Neonlicht neben dem Geschirrspüler zu Abend essen will", gibt etwa Tony Mantuano unumwunden zu. Jetzt weiß es der Inhaber des Lokals juttapesto". Sein Küchentisch ist jeden Abend ausgebucht. "Es kommt mir verrückt vor. Vielleicht deshalb, weil ich jeden Tag bei Neonlicht neben dem Geschirrspüler stehe."
Aber genau das ist der Punkt. Gäste, die den Küchentisch reservieren, möchten sehen, hören, riechen und schmecken, wie es in der Küche zugeht. So nahe wie möglich am Geschehen sein, das reizt die Leute am Tisch neben dem Geschirrspüler.
Doch die Kitchen Tables bei Charlie Trotter & Co sind alles andere als wahllos in die Ecke gestellte Katzentische. In Trotters Designerküche aus mattem Aluminium und Stahl ist der weiß gedeckte Tisch des Chefs meisterhaft platziert. Umsäumt von Stahlregalen, auf denen weißes Porzellan, edle Ölkaraffen und andere Küchenutensilien stehen, können die Gäste das Geschehen perfekt überblicken. Im Zentrum steht dabei zweifellos Trotter selbst: glatzköpfig und mit Jeans unter der weißen Schürze sitzt er an einer polierten Stahltheke und koordiniert von dort aus sein 16-Mann-Küchenteam – lautstark wie ein Fußballtrainer.
Doch außer beeindruckenden Einblicken in Trotters Management-Stil (Firmenchefs sollen den Küchentisch schon einzig und allein wegen seines Führungsstils bestellt haben), ist natürlich das Essen die Hauptattraktion am Küchentisch. Wer einmal das himmlische 12-Gänge-Menü bei Charlie Trotter gesehen und gekostet hat, der versteht, warum dafür 150 Dollar (plus Getränke und Steuer) pro Person verlangt werden. Es ist ein Fest für sämtliche Sinne. Jeder Gang – von den Kanapees am Anfang bis zum Dessert – ist im wahrsten Sinne des Wortes "designd". "Das Menü stützt sich oft auf das reguläre Menü des Abends, aber es gibt immer zwei oder drei Gänge exklusiv für diesen Tisch", sagt Trotter.
Der Blick hinter die Küchenkulissen kann aber auch weitaus preiswerter und dennoch nicht weniger aufregend sein. Das italienische Sechs-Gänge-Menü am Küchentisch der "Cucina Bella" kostet 25 Dollar und man muss nur etwa zwei Wochen auf einen Samstagabend-Tisch warten. Bevor der Gast am Tisch in der, mit getrockneten Blumensträußen und antiken Töpfen dekorierten, "schönen Küche" Platz nehmen darf, bekommt er erst einmal von Küchenchef Mark Donaway eine weiße Schürze umgebunden. So fühlt man sich gleich heimisch im familiären Kreis des Küchenteams. Perfekter Service, ein Markenzeichen der US-Gastronomie, macht zudem vor der Küche nicht halt. "Oh, das sieht aber lecker aus", solch ein Ausruf eines Gastes am Küchentisch bleibt selten unbeachtet. Ob das entsprechende Gericht nun zum Menü gehört oder nicht, eine kleine Kostprobe wird dem Gast gern gereicht.
Angesichts des gewaltigen Erfolges fragt man sich unwillkürlich, warum die Küchentische nur von einer Handvoll Restaurants angeboten werden. Charlie Trotters Antwort ist einfach: "Ehrlich gesagt, ich frage mich, wie viele Küchenteams diese Prüfung überstehen würden." Denn ein Risiko ist es allemal, wenn man die Küche dem Auge des Gastes öffnet. Die Sauberkeit, die Zusammenarbeit und der Umgang des Küchenteams miteinander, alles kriegt der Gast mit. Trotter: "Ich bin stolz auf unser Küchenteam und ich bin glücklich, dass ich es der Öffentlichkeit zeigen kann."
Auch bei uns gibt es sicherlich Wirte, die sich mit ihrer Küche und ihrer Crew nicht zu verstecken brauchen. Ihnen kann man angesichts des Erfolgs dieses Idee in den USA nur raten: Probiert doch mal aus, wie Eure Gäste auf das Angebot reagieren, in der Küche Platz zu nehmen. In solch einer, ohne großen finanziellen Aufwand zu verwirklichenden Konzeptidee steckt eine ganze Menge Profilierungspotential – und die Chance, eine Art Lücke zu füllen. Denn auch für die hiesigen Gäste dürfte es reizvoll sein, einen Abend in familiärer Atmosphäre am Küchentisch ihres Lieblingsrestaurants zu verbringen – und am Ende nicht selber abspülen zu müssen.
Dieses Konzept ist erschienen im Gastronomie-Report 10/1995.
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